Aufbruch in das Zeitalter des Fahrrads
Die Summe klingt verheißungsvoll: 660 Millionen Euro spendiert das Bundesverkehrsministerium über das Sonderprogramm Stadt und Land in den kommenden drei Jahren Städten und Kommunen.
660 Millionen Euro spendiert das Bundesverkehrsministerium über das Sonderprogramm
Allerdings ist die Finanzspritze für Planer und Planerinnen nur von kurzer Dauer. Bis Ende 2023 muss alles fertig sein, sonst bleiben die Bauherren auf ihren Kosten sitzen.
Schon jetzt steht fest: Der knapp bemessene Zeitrahmen setzt viele Städte und Kommunen enorm unter Druck. Die vom Verkehrsministerium geforderten Großprojekte wie Brücken oder Parkhäuser werden in den kommenden drei Jahren kaum fertig werden, weil Planerinnen fehlen. Trotzdem sehen Radverkehrsexperten und -expertinnen das Sonderprogramm als wichtiges Signal des Bundes. Für sie setzt es neue Qualitätsstandards für den Radverkehr und unterstreicht seinen Beitrag zum Klimaschutz.
Die 660 Millionen sind Teil des Klimapakets. Der Bundestag hat die Investition beschlossen, das Ministerium managt ihre Verteilung. Verkehrsminister hatten den Radverkehr jahrelang vernachlässigt. Das spüren die Planungsbüros und Verwaltungen: Bundesweit fehlen Fachkräfte, um zeitnah das Geld zu verplanen. 1,5 Milliarden Euro stehen aktuell in acht verschiedenen Fördertöpfen bereit – so viel wie nie zuvor. Im vergangenen Jahr wurden zwar sieben Stiftungsprofessuren geschaffen, um den benötigten Nachwuchs auszubilden, aber die Initiative aus dem Verkehrsministerium kam zu spät.
Ein Kulturwandel in den Verwaltungen
Die Verwaltungen klagen seit Jahren über den Mangel bei Radverkehrsplanern. "Verkehrsplaner aus anderen Bereichen abzukommandieren, funktioniert nicht", sagt Tilman Bracher, Mobilitätsexperte vom Deutschen Institut für Urbanistik. "Sie haben jahrzehntelang den Verkehr pro Auto geplant. Dem Radverkehr auf der Straße mehr Platz oder gar Vorrang einzuräumen, ist für sie ein Kulturwandel. Der funktioniert in einer Verwaltung nicht auf Knopfdruck", sagt er.
Arne Koerdt kann das bestätigen. Er arbeitet seit 2012 in Baden-Württembergs Verkehrsministerium, derzeit als Referatsleiter für Rad- und Fußverkehr. In den Anfangsjahren diskutierte er ständig mit den Kommunen über die Breite von Radwegen. "Viele fanden selbst 1,20 Meter noch zu breit und wollten die Radwege deutlich schmaler bauen", sagt er. Heute liegt der Maßstab für einen Radweg in Baden-Württemberg bei zwei Metern und für Radschnellwege bei bis zu vier Metern. "Das ist ein Qualitätssprung", sagt Koerdt.
Den erhofft sich auch Karola Lambeck von dem Sonderprogramm Stadt und Land. Lambeck ist die Radverkehrsbeauftragte des Bundesverkehrsministeriums. Sie erwarte von den Planern, dass sie sich stets überlegen, ob ein Vater seine zwölfjährige Tochter allein auf den von ihnen geplanten Radwegen fahren lassen würde, sagte sie im Herbst bei einem Radverkehrssymposium.
Klingt banal – aber Radverkehrsexperten wie Tim Birkholz sehen darin eine langsame Richtungsänderung in der Radverkehrsplanung. "Die Frage ist, ob sogenannte Schutzstreifen auf der Fahrbahn unter solchen Gesichtspunkten überhaupt noch gebaut werden dürfen", sagt der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK) in Mecklenburg-Vorpommern. Er meint die Radspuren, die nur durch eine gestrichelte Linie vom Autoverkehr getrennt sind.
Radschnellwege brauchen lange Planungszeit
Die Höhe der Fördersumme ist für ihn ein Quantensprung in der Radverkehrsförderung. Das Problem ist der Zeitrahmen. "Ich kenne keine Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern, die eine fertige Planung für 400.000 Euro in der Schublade hat", sagt Birkholz. Die Zeit drängt. Wer bis Herbst keine Planung liefert, wird wahrscheinlich leer ausgehen.
Verkehrsforscher Bracher sieht ein weiteres Problem: "Die meisten Gemeinden haben kein Geld für die geforderten Eigenanteile, ohne die es keine Zuschüsse gibt. Summen in dieser Größenordnung haben noch nicht viele Kommunen für den Radverkehr verplant." Nur Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg seien auf das Förderprogramm vorbereitet.
Die Landesregierung in Stuttgart betreibt sogar ein eigenes Förderprogramm für den Radverkehr in Höhe von 15 Millionen Euro. Auf das können sich die Kommunen im Jahresrhythmus bewerben. Als sich im vergangenen Frühjahr abzeichnete, dass der Bund ein Sonderprogramm auflegt, hat das Landesverkehrsministerium Vorhaben im Wert von 58 Millionen neu in das Landesprogramm aufgenommen mit dem Vermerk, dass diese Summe nur finanzierbar sei, wenn die Kofinanzierung des Bundes realisiert wird.
"Das sind immer noch keine fertigen Planungen", betont Referatsleiter Koerdt. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Kommunen durch die Förderquoten von bis zu 90 Prozent dazu animiert werden, ihre Projekte tatsächlich schnell umzusetzen. "Ein Infrastrukturprogramm auf kommunaler Ebene mit drei Jahren Laufzeit ist nicht sehr praxisgerecht", sagt Koerdt. Kommunen bräuchten Planungssicherheit – wie etwa beim Infrastrukturprogramm für Radschnellwege. Hier läuft die Förderung von 2017 bis 2030. Diesen Zeitrahmen brauchen die Planer, um neben ihrer eigentlichen Arbeit weitere Projekte zu initiieren. "2020 haben wir das erste Mal eine nennenswerte Zahl an Anträgen für Radschnellwege erhalten", sagt Koerdt. Fertig werden sie in etwa fünf bis sieben Jahren.
Wird der Förderzeitraum verlängert?
Von Projekten in dieser Größenordnung will das Verkehrsministerium bis 2023 mehr auf den Straßen sehen. Laut ihren Berechnungen können mit den 660 Millionen Euro beispielsweise 55 Brücken und Unterführungen entstehen, 272 Kilometer Radwege, die vom Kfz-Verkehr getrennt sind, 24.800 Fahrradboxen und 31.200 Stellplätzen in Fahrradparkhäusern sowie Radwegbeleuchtung.
Viele Planer haben mit diesen Bauwerken keine Erfahrung. In den Niederlanden dagegen gibt es viele Beispiele für herausragende Bauwerke, etwa der Hovenring in Eindhoven. Die sogenannte Schwebebrücke wurde 2012 eigens für Radfahrer über eine vielbefahrene Kreuzung gebaut. Sie hat die Form eines Kreisverkehrs und wird abends beleuchtet. Sie ist inzwischen eines der Wahrzeichen der Stadt.
Mithilfe des Sonderprogramms könnten auch in Deutschland bald Projekte mit ähnlicher Strahlkraft verwirklicht werden – wie etwa die geplante Warnow-Brücke für Radfahrer und Fußgänger in Rostock. Dafür müsste aber der Förderzeitraum ausgeweitet werden, sagt Verkehrsforscher Bracher.
Wenn Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer die drei Ziele seines Sonderprogramms ernst nimmt, bleibt ihm kaum etwas anderes übrig, als die Fördersummen für den Radverkehr zu verstetigen. Schließlich will sein Ministerium spürbar mehr Autofahrerinnen aufs Rad bringen, außerdem soll Radfahren sicherer werden und die gesellschaftliche Teilhabe durch mehr Radverkehr gesichert werden. Diese Ziele in drei Jahren erreichen zu wollen, ist sportlich.